Ludwig Seyfarth: Gemaltes Verschwinden. (2008)

Ludwig Seyfarth:
Gemaltes Verschwinden. Zu Marc Lüders
East Side-Serie.

Die    Trompe l’oeil Malerei täuscht die Augen derartig, dass sie gemalte Gegenstände mit ihren realen Vorbildern verwechseln.
Diese Absicht stand schon hinter dem berühmten antiken Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios, den letzterer entschied weil er Zeuxis dazu brachte, den gemalten Vorhang vor einem vermeintlichen Gemälde zurückziehen zu wollen. Einer der historischen Höhepunkte des Trompe-l’oeil entwickelte sich als Spezialzweig der Stilllebenmalerei im Holland des 17. Jahrhunderts. Cornelius Gijsbrechts, einer der größten Virtuosen auf diesem Gebiet, stellte neben Vorhängen, geöffneten Fenstern oder Briefablagen auch Rückseiten von Bildern illusionistisch dar.

Seit dem 19. Jahrhundert verlor der malerische Illusionismus zunehmend an Bedeutung, nicht zuletzt durch das Aufkommen der Fotografie. Sie hatte der Malerei die Aufgabe weitgehend abgenommen, die Dinge getreu abzubilden. Doch der Malerei fiel eine neue Aufgabe des Trompe-l’oeil zu, sich selbst in einem anderen Medium vorzutäuschen. Fotos wurden koloriert und bemalt, um wie Gemälde auszusehen. Sie sollten dadurch die Anerkennung als Kunst erlangen, die rein technisch hergestellten Lichtbildern lange Zeit verweigert wurde.

So entwickelte sich im Verhältnis von Malerei und Fotografie ein merkwürdiger Nachfolger des klassischen Paragonestreits, der einst zwischen Malerei und Skulptur um die »wahrere« Abbildung der Natur ausgetragen wurde. Gerhard Richter proklamierte in den 60ger Jahren:
»Alle Maler und überhaupt alle sollten Fotos abmalen und überall sollten diese Bilder hängen, in den Wohnungen, den Gaststätten und Büros, in Bahnhöfen und Kirchen, also überall.« (1) Neben Richters malerischer Übertrumpfung fotografischer Unschärfen traten um 1970 die Fotorealisten mit ihren virtuosen Bildern nach Fotovorlagen in Erscheinung. Sie brachten die augentäuscherischen Möglichkeiten der Malerei noch einmal zu kunsthistorischen Ehren, bevor die Möglichkeiten digitaler Bildherstellung und –manipulation die Frage »Malerei oder Fotografie« in eine beliebig wählbare Option aus dem Photoshop-Menü verwandelten.

Künstler treten angesichts neuer Bildtechniken gern einen Schritt zurück, um diese besser beobachten zu können. Manet oder Degas übertrugen die Anschnitte und Verzerrungen, über die man auf Fotos gern hinwegsah, in die Malerei, wo der Rahmen der hier erwarteten Kompositionsregeln sie gleichsam unter ein Vergrößerungsglas stellte.
Und so ist es keineswegs ein historischer Rückschritt, wenn Marc Lüders uns in seinen »Photopicturen« keine PhotoshopMontagen liefert. Er versieht Fotos, die er von realen Landschaften, Brachflächen oder urbanen Situationen gemacht hat, mit einzelnen dazugemalten Elementen.

Scheinbar lässt er die altertümliche Kolorierung und andere Frühformen der fotografischen Täuschung wieder aufleben. Die merkwürdigen, wurstartigen Formen, die auch schon auf Lüders’ früheren Schwarzweißbildern herumschwebten, mögen wie Wiedergänger der amorphen Gebilde auf den »Geisterfotografien« Ende des 19. Jahrhunderts wirken. Sie sollten die Existenz übersinnlicher Phänomene beweisen, entpuppten sich aber meist als mehr oder weniger geschickte Fälschungen.
Solche Formen, die manchmal deutlich als Pinselstriche kenntlich sind, manchmal an einen in der Luft schwebenden Klumpen oder Stein erinnern, finden wir auch in Lüders’ neuester Bildserie. Sie basiert auf Fotografien die der Künstler an der »East Side Gallery« machte; einem der wenigen übrig gebliebenen Teile der Berliner Mauer, welches 1990 auf 1316 m Länge von über 100 internationalen Künstlern mit meist grellbunten Motiven bemalt wurde.
Bereits der kalte Winter 1990/91 führte zu ersten Schäden an den Bildern, die zwar seit einigen Jahren teilweise restauriert werden, aber immer noch großenteils verwittert, teilweise abgeblättert und durch andere Graffitis oder Textbotschaften übermalt oder überkritzelt sind.

Vor den fotografierten Abschnitten der East Side Gallery nehmen sich Lüders’ malerische »Ergänzungen« wie Bestandteile des bereits auf der Mauer Angebrachten aus. Dass hier eine eigene Realitätsebene vorliegt, wird vor allem durch die gemalten Schatten deutlich, welche die länglichen Striche oder klumpenartigen Formationen auf die Mauer oder auf den Boden zu werfen scheinen. Mit diesem klassischen Trompe-l’oeil-Effekt knüpft Marc Lüders ironisch an den historischen Wettstreit zwischen Malerei und Skulptur an: Der Schatten, klassischer Beweis für die physische Existenz, verleiht dem Gemalten den scheinbaren Realitätsgrad eines im Raum befindlichen Gegenstandes.
Den sich mitunter zu strudelartigen Gebilden auftürmenden, ungegenständlichen Formationen, die in den nummerierten Bildtiteln stets mit »Objekt« klassifiziert sind, steht eine zweite, mit »Figur« bezeichnete Kategorie des »Dazugemalten« gegenüber. Bei diesen Figuren handelt es sich um Menschen, die Lüders zunächst auf öffentlichen Plätzen, an der Ampel stehend oder in anderen beiläufigen Situationen fotografiert hat. Sie tauchten schon in früheren Bilderserien gemalt wieder auf, wo sie einsam im Wald, am Strand oder in einem Gewerbegebiet stehen.
Die Rückenfiguren, die einst von Caspar David Friedrich ähnlich in die Landschaften hineincollagiert wurden, verdoppelten den Blick der Betrachter in die Landschaft, der zwar verträumt sein mag, aber doch einigermaßen zielgerichtet nach hinten geht. Auch Lüders’ Figuren sieht man häufig von hinten. Doch wenn sie seitlich oder frontal stehen, geht der Blick nicht in Richtung Betrachter. Ihre Gesichter sind nie deutlich zu erkennen und sie stehen beziehungslos wie orientierungslose Fremde in der »neuen« Umgebung herum.

Vielleicht ist es nicht übertrieben darin auch eine Metapher für die Beiläufigkeit der Beziehungen zwischen den Menschen in der Großstadt zu sehen, wie sie schon von Edgar Allan Poe, Baudelaire oder dem deutschen Soziologen Georg Simmel eindringlich beschrieben wurde. Auf vielen Fotografien urbaner Milieus findet sich ein Eindruck mentaler Abwesenheit wie eine Signatur des modernen Lebens, etwa in den »Subway Portraits«, die Walker Evans zwischen 1938 und 1940 mit versteckter Kamera von Passagieren in der New Yorker U-Bahn machte.
Ähnlich wie Evans nimmt Lüders Passanten auf, deren Nicht-Wissen um das Fotografiertwerden sie mental abwesend erscheinen lassen. In der East Side-Serie findet sich einerseits kein Bezug der Figuren zu uns als Betrachter, andererseits lassen sie kaum eine Aufmerksamkeit zum Hintergrund der bemalten Mauer erkennen.
Der Bezug von Figur und Hintergrund ist ein kompositorischer, den Lüders durch die Platzierung der Figur im Bild und durch die Farben von Kleidung, Taschen oder anderer Accessoires herstellt. Farbliche und formale Korrespondenzen stellen eine kompositorische Vereinheitlichung her.
Und je bunter die Personen gekleidet sind, desto besser sind sie in der Umgebung »versteckt«. Wer in einer Landschaft, in einem Wald unsichtbar bleiben will, wird eher dunkle und zurückhaltende Tarnfarben oder laubfarbene Musterungen wählen, wie sie die traditionelle militärische Tarnkleidung aufweist. Als 1915 Kanonen mit Camouflage-Bemalung durch Paris fuhren, soll Picasso zu Gertrude Stein gesagt haben: »Das haben wir erfunden.« (2)
Tatsächlich gibt es viel Vergleichbares zwischen der kubistischen Formzerlegung mit der Picasso und Braque die traditionellen Objektbeziehungen in ein zersplittertes Mosaik aus Einzelformen auflösten und militärischen Tarnbemalungen, die einen Gegenstand in seiner Umgebung optisch zum Verschwinden bringen sollen.
So gesehen scheint es geradezu folgerichtig, dass William Wadsworth und andere Vertreter des Vortizismus, der britischen Spielart des Kubismus, gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit der Beaufsichtigung des Tarnanstriches von 2000 Schiffen beauftragt wurden.

Auch die East Side Gallery ist eine Art Camouflage-Bemalung: Sie sollte das triste Grau der Betonplatten verbergen, wie schon die zahlreichen Graffitis, die vor 1990 die Westseite der Berliner Mauer geziert hatten. Dass auch die »East Side«, ein einst den Grenzbereich nach Ostberlin hin abschirmender Mauerabschnitt, nach der Maueröffnung mit Graffitis und anderen Bildern bemalt wurde, verstand sich als bewusster und befreiender Kommentar zu den politischen Veränderungen, die in den einzelnen Werken der Graffitikünstler inhaltlich reflektiert wurden.
Die Verwitterungen und Übermalungen machen aus den ehemals klaren Botschaften ein komplexes Wirrwarr aus Farben, Formen, Texten und Zeichen. Sie hätten sicher Fotografen wie Brassaï fasziniert, der schon in den 1930er Jahren Graffitis oder abgerissene Plakate aufnahm und damit die pittoreske Verfallsästhetik modernisierte, die schon im 19. Jahrhundert den Geschmack vieler Fotografen an Ruinen und verfallenden und verwitterten Mauerflächen entzündete. Was Brassaï noch in grafischem Schwarzweiß einfing, hängten die »Plakatabreisser« wie Raymond Hains oder Jacques de la Villeglé um 1960 als vielfarbige Bildobjekte ins Museum. Schon ihre Bilder gäben eine gute Tarnumgebung ab, vor der die Figuren von Lüders in ihrer poppig-bunten Straßenkleidung, ihren T-Shirts mit Logos oder Schriftzügen optisch nahezu verschwinden würden.

Um das Gegenteil geht es den Touristen, die sich vor der realen East Side Gallery, auf dem Bürgersteig entlang der vielbefahrenen Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke von ihren Verwandten oder Freunden ablichten lassen. Sie wollen zeigen, dass sie hier waren, was bei den Personen auf Lüders’ Bildern wahrscheinlich nie der Fall war.
Sie sind malerisch hineincollagiert in eine Umgebung, die bereits eine Collage ist, die sich im Laufe der letzten achtzehn Jahre in diversen Schichten auf einem Rest der Berliner Mauer abgelagert hat.
Auch wenn niemand in der Lage sein dürfte, Herkunft und Urheber all der hinterlassenen Bilder und Zeichen zu ermitteln, handelt es sich um physisch erfahrbare Spuren. Ihnen hat Marc Lüders, der schon in einigen früheren Bildern fotografierte Wände mit gemalten Graffitis versah, gezielt Elemente hinzufügt, die zu einer manchmal reliefartig erhabenen physischen Spur auf der Oberfläche des Fotos werden. Die abstrakten Formen, die manchmal wie ein spontan gesetzter Pinselstrich aussehen, sind eher Zeichen für die Spontaneität der malerischen Geste als wirklich spontan. Man könnte sie als illusionistische Darstellung eines gestischen Pinselhiebs verstehen, als gemaltes Trompe-l’oeil der Malerei selbst.

Und damit wären wir doch bei einem ganz anderen Thema als dem Wettstreit zwischen Fotografie und Malerei, den Marc Lüders nur scheinbar noch einmal aufführt, um der Nivellierung aller Medien durch ihre digitale Simulation ein kleines analoges Schnippchen zu schlagen. Lüders fotografiert, was gemalt ist, malt selbst etwas dazu, und dieses Gemalte wirft einen Schatten in der realen Umgebung. Das Einzige, dessen »Realität« wir physisch überprüfen können, ist die Erhabenheit der Malerei. Von der physischen Realität ausgehend, die auf dem zugrunde liegenden Foto zu sehen ist, suggerieren die gemalten Elemente eine hinzugefügte Ebene von geringerem Realitätsgrad. Verschiedene Ebenen der visuellen Darstellung werden in ein Spiel miteinander verwickelt, das ihre Eindeutigkeit immer wieder in Frage stellt. Das vermeintliche Wechselspiel zwischen Malerei und Fotografie ist eher eine szenische Aufführung dessen, was sich bei digital generierten Bildern gleichsam hinter dem Vorhang der Bildschirmoberfläche vollzieht. Wenn Malerei, Fotografie und andere Bildmedien nur noch simuliert gegeneinander antreten, gibt es keine physischen Spuren mehr, deren Realität in Frage zu stellen wäre. Und damit entfällt auch die notwendige Reibungsfläche für das illusionistische Spiel des Trompe-l’oeil, das Marc Lüders ebenso raffiniert wie zeitgemäß am Leben zu erhalten weiß.

Ludwig Seyfarth, 2008

(1)
Gerhard Richter, Text für Ausstellungskatalog der Galerie h, Hannover, zusammen mit Sigmar Polke [1966], in: ders., Text. Schriften und Interviews, hg. von Hans-Ulrich Obrist, Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 42.

(2)
siehe dazu und zum Folgenden: Christoph Asendorf, Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution, Wien/ New York 1997, S. 217 f.

Quelle: East Side Gallery. Kerber Verlag, Bielefeld, 2008, page 81-89.