Kategorie: Deutsche Fassungen

Carl Robinson: Zweifaches Sehen | Twofoldness (2018)

Carl Robinson:
„Zweifaches Sehen | Twofoldness.“

Der Text wurde im Rahmen der Publikation „Painting Digital Photography“ von Cambridge Scholars Publishing in 2018 veröffentlicht [ISBN 978-1-5275-1110-1]. Diese Publikation ist die Dokumentation der Konferenz „PaintingDigitalPhotography“, die 2017 in Zusammenarbeit mit der University of Derby und dem QUAD Art Centre in Derby (UK) stattfand.

Der Text wurde von Andreas Münzner ins Deutsche übersetzt und erschien 2018 im Katalog „Marc Lüders. Zweifaches Sehen | Twofoldness“, herausgegeben von der LEVY Galerie, Hamburg.

PDF [Deutscher Text im Katalog „Marc Lüders. Zweifaches Sehen | Twofoldness]

Luminita Sabau: Marc Lüders und der neue Surrealismus. (2010)

Luminita Sabau:
Marc Lüders und der neue Surrelismus.

“Die Kunst ist vielleicht die sichtbarste Wiederkehr des unterdrückten Bewusstseins.”
Sigmund Freud

Die Pop-Art war wahrscheinlich die letzte große Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts. Mit den 1970er-Jahren wurden die Ismen totgesagt, das Ende der Avantgarde ausgerufen, und die Kunst war letztlich nur noch an die Kraft der einzelnen künstlerischen Stimme gebunden. Das gesellschaftliche Signum der postmodernen Epoche brachte der französische Philosoph Paul Virilio knapp und zutreffend auf die Formel vom »großen visuellen Rauschen«.

Dreißig Jahre später wurden wieder Kunstbewegungen und Stile proklamiert, ob sie Neue Deutsche Malerei, Leipziger Schule oder Hyperrealisten hießen. Im Alltag trug der virtuelle Anteil unserer Gegenwart dazu bei, dass jeder einzelne von uns in sich demiurgische Potenzen entdeckte. Per Knopfdruck können wir zu Akteuren in virtuellen Welten werden, in denen alles möglich ist. Frei nach André Breton können nun das Unwirkliche und Traumhafte sowie die Tiefen des Unbewussten als Elemente eines von uns gesteuerten Spiels ausgelotet werden, um die realen und notwendig begrenzten Erfahrungen zu erweitern und neue virtuelle Räume zu erschaffen. Dass Künstler dabei immer auch die Vorreiter sind, versteht sich von selbst. Sie haben uns schon immer mit Welten konfrontiert, die einerseits Spiegel unseres Selbst und andererseits Vorahnungen der Zukunft sind. Der große Joseph Beuys sprach explizit vom Künstler als Seismografen. So entstand noch lange nach dem Ende der surrealistischen Bewegung eine nicht zu übersehende Anzahl von Positionen in der Literatur (von Paul Celan über Isaac Asimov und Ray Bradbury bis hin zu Oskar Pastior), im Film (von Federico Fellini über David Lynch und David Cronenberg bis Terry Gilliam oder Paul Thomas Anderson) und in der bildenden Kunst (von den Mitgliedern der Cobra-Gruppe bis zu Künstlern wie Matthew Barney oder Peter Doig), für die es galt, das Potenzial des Fantastischen und die spezifischen Energien des Unbewussten zu erkunden. Auch das Genre der Science-Fiction kann natürlich als Ausdruck einer surrealistischen Haltung verstanden werden.

Die Bildwelten von Marc Lüders sind vielleicht eine solche Vorahnung. Wir begegnen darin immer wieder irrealen Gestalten, die sich innerhalb einer profanen, fotorealistisch dargestellten Umgebung bewegen. Diese fotografische Welt erkennen wir sofort. Die gemalten Gegenstände oder menschenähnlichen Figuren, die diese Welt bevölkern, bleiben uns allerdings fremd. Und auch sie selbst haben anscheinend (noch) keine richtige Beziehung zu ihrer Umgebung geschaffen. Sie nehmen zwar scheinbar vertraute Posen im Schuhgeschäft, im Bad, am Strand oder im Supermarkt ein, wo sie allerdings der Schwerkraft enthoben scheinen, denn mitunter stehen sie vor auf dem Kopf stehenden Regalen – wie »Strangers in a Strange Land«; so der gleichnamige Klassiker der Science-Fiction-Literatur von Robert A. Heinlein. Es sind ungewöhnliche und rätselhafte Zusammenstellungen von vertrauten und frei erfundenen Gegenständen, die zu Handlungsträgern einer neuen (beziehungsweise vormals unbewussten) Welt werden, die auch durch die vielfache Wiederholung nichts von ihrer Spannung einbüßen. Die durch des Malers Hand sichtbar gewordenen Gestalten und die seltsamen surrealen Objekte, die durch die Landschaft fliegen, wirken – außer im formalen Sinn von Vorderund Hintergrund – beziehungslos. Wir haben es offensichtlich mit jenen »zufälligen Begegnungen« auf einem Sezieroder eben bei Lüders einem OP-Tisch zu tun oder werden zu Zeugen längst vergessener Séancen. Selbst dann, wenn Mensch und gemalte Gestalt aufeinander zugehen, ist diese Begegnung unwirklich. So werden Assoziationen mit Iwan Jefremows Andromedanebel wach, und Bretons Moment des »dépaysement« (der »Entheimatung«) wird wieder gegenwärtig. Die Dinge und Menschen werden dekontextualisiert, an fremde Orte platziert – »displaced«. Dadurch offenbart sich uns eine im doppelten Wortsinn verrückte Realität, die auf ihre Quellen im Unterbewussten und Traumhaften schließen lässt.
So wichtig das Spannungsverhältnis zwischen Fotografie und Malerei für die Kunst der letzten dreißig Jahre und auch für das Werk von Marc Lüders ist, so würde es seiner Ästhetik doch nicht gerecht, die Arbeiten auf dieses Verhältnis zu reduzieren. Denn wie auch mit dem Begriff der »Photopicturen«, den Lüders selbst gerne verwendet, sind damit lediglich technische Aspekte angesprochen. Wichtiger jedoch scheinen mir bei diesem einmaligen Werk nicht nur die formal überzeugenden Ergebnisse zu sein, die eine absolute Beherrschung der Medien Malerei und Fotografie bezeugen, sondern dass der Traum und das Unterbewusste wieder ins rechte Licht gerückt werden. Oder wie Freud sagte, »dass das Unbewusste viel moralischer ist, als das Bewusste wahrhaben will«.

Der psychische Automatismus und eine bewusste Kombinatorik gelten als ursprünglich surrealistische Methode. In seiner gestisch ausgeführten Malerei lebt bei Lüders ein ausgeprägt psychografisches Element auf, zwar das in Kombination mit dem fotografischen Medium, das seine Glaubwürdigkeit zu keinem geringen Teil aus seiner automatischen Genese bezieht. Surrealistisch an Lüders’ Kunst ist vor allem das Thematische, nämlich das problematisch gewordene Verhältnis von Mensch und Ding: Es geht um beseelte Dinge, die ein Eigenleben führen, sowie um Sehen und Sichtbarkeit durch Ineinander-Blendung verschiedener Realitäts- oder Illusionsebenen. Schon die Surrealisten waren begeistert von Jean-Martin Charcots Fotografien von Hysterikerinnen aus dem späten 19. Jahrhundert und den Fotografien von mediumistischer »Materialisationsphänomenen« aus den 1910er-Jahren. Auch Thomas Mann nahm wiederholt an Séancen teil und hielt seine Wahrnehmungen dazu fest. So gesehen erscheinen Lüders’ farbige Figuren wie Flaneure in den Arkaden von Paris – nur im fotorealistischen Register etwa eines Richard Estes – und seine schwarz-weißen Figuren wie Chimären und Geisterwesen, ja wie (unsere) Ahnen. Und in diesem Zusammenhang lassen sich auch seine menschenleeren Tankstellen – à la Edward Hopper und popfarbig – als Friedhöfe lesen. Die schwebenden Objekte haben etwas von UFOs, aber eben auch vom sogenannten »Ektoplasma« jener Fotos zu Beginn der Moderne, die zeigen, wie aus den Mündern der dargestellten Medien körperfremde Materie austritt, dass also die menschliche Stimme der angerufenen Person gleichsam materialisiert »erscheint«. Diese Objekte, die Figuren immer ähnlicher zu werden scheinen, sind in der Tat phänomenale Erscheinungen.

Mit seiner Faszination für die Vielfalt der Transformations- und Überarbeitungsmöglichkeiten ist Marc Lüders in guter Gesellschaft. Schon der Fotograf Man Ray war zugleich Maler und »Objektschaffer« und machte sich die Experimentiermöglichkeiten in der Dunkelkammer wie Solarisation oder absichtlich erzeugte Körnigkeit zunutze. Schon Brassaï schuf Fotos, als seien sie nach der Ecriture automatique entstanden. Schon Buster Keaton führte in hoch poetischer Form vor Augen, dass die Dinge immer schon stärker waren als wir selbst. Und in jüngerer Zeit ließen uns beispielsweise Anna und Bernhard Blume parapsychologisch freigesetzte Fliehkräfte um die Ohren fliegen. Geister, Schatten und Schwebendes erscheinen uns unheimlich, anders gesagt, als das energetische Potenzial des Psychischen. Hier liegt das genuin surrealistische Interesse. Und es ist tatsächlich verblüffend, wie zentrale formale und motivische Elemente im Werk von Marc Lüders dem entsprechen. Wie bei Yves Tanguy schaffen bei ihm Schatten als Zeichen innerer Bewegtheit Räume, die eigentlich nicht vorhanden sind. Das Schweben der Dinge erinnert an die schwebenden (schwerelosen) Dinge in den Gemälden von Max Ernst, und Lüders’ städtischer Raum ist vergleichbar mit dem bei Paul Delvaux – der Raum ist irreal, er dient als Kulisse für Begegnungen ohne erkennbaren Sinn und Zusammenhang, dessen verschlüsselter Sinn sich aber demjenigen erschließt, der die Sprache des Unterbewusstseins versteht und die Intensität des Augenblicks wahrnimmt.

Luminita Sabau, 2010

Quelle: Marc Lüders. Erfindung der Realität. Hatje Cantz, Ostfildern, 2010, page 111-113

Stephan Berg: Zwischen den Bildern (2010)

Stephan Berg:
Zwischen den Bildern.

In gewisser Weise sind die engen Bezüge zwischen Fotografie und Malerei, die spätestens seit den 1990er-Jahren den Diskurs beider Medien wesentlich mitbestimmen, nichts anderes als ein Komplementärkontrast zu ihrer jahrzehntelangen intensiven Gegnerschaft. Geändert hat sich seit der ersten Fotografie, die Joseph Nicéphore Niépce im Jahre 1826 im Heliografie-Verfahren gelang, vor allem die Bewertung des fotografischen Bildes. Sobald einmal erkannt war, dass Fotografie mitnichten – wie die Malerei gerne unterstellte – eine rein mechanische und damit notwendig kunstlose Reproduktion des Wirklichen betrieb, war der Weg frei für die spannendere Frage, zu welchen wahrnehmungstheoretisch relevanten Ergebnissen die von beiden Disziplinen – wenn auch auf verschiedenen Wegen – betriebene Erfindung der Realität führt. Anders gesagt: Glauben wir dem gemalten Bild deswegen mehr oder gerade weniger, weil sein Verhältnis zur Realität von vornherein bestimmt ist durch die subjektiven Setzungen des Pinsels, wodurch jede Malerei zunächst einmal eine eigene Wirklichkeit bildet, bevor sie etwas anderes abbildet? Oder sorgt die – jedenfalls im analogen Zeitalter – stets gegebene direkte Verknüpfung des fotografischen Abbildes mit seinem Vorbild dafür, dass wir die dadurch entstehende Kluft zwischen abbildender Objektivität und erfindender Subjektivität als produktiver beziehungsweise zeitgemäßer empfinden?

Marc Lüders operiert mit seinen »Photopicturen« genau im Zentrum der Verwerfungs- und Verbindungslinien zwischen malerischem und fotografischem Diskurs. Dabei verfolgt sein Werk zwei Hauptstränge: Zum einen die systematische Verknüpfung zwischen fotografischem und gemaltem Motiv. Zum anderen die Konfrontation zwischen Malgeste und Fotografie. Zu der ersten Gruppe gehören vor allem die Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Farbfotografien von Räumen und suburbanen Peripherien, in die Lüders merkwürdig linkisch oder abwesend wirkende, gemalte Personen integriert. Die gemalten Personen gehen dabei auf digitale Aufnahmen zurück, die Lüders etwa von Wartenden an Fußgängerampeln macht, um sie dann nach mehreren Bearbeitungsschritten auf das Foto zu projizieren und in Malerei zu übertragen. Die dialektische Verknüpfung zwischen Foto und Malerei funktioniert dabei deswegen so gut, weil Lüders die Situationen für seine Fotomotive stets schon im Hinblick auf die zu integrierenden Personen auswählt. Gleichzeitig sorgt die Kombination aus gesichtslosen Unorten und disloziertem Personal für eine deutliche Melancholie. Im trostlosen Nirgendwo von Neubausiedlungen, schäbigen Fluren und Badezimmern wirken die Subjekte wie schlafwandelnde Traumtänzer – ebenso ihrer selbst wie ihrer Umgebung entfremdet. Eine ähnliche Form der Destabilisierung findet auf der Ebene der beiden verwendeten Medien statt. Die realistischen, aber doch eindeutig gemalten Personen sorgen für eine gewisse Surrealisierung des fotografischen Umfeldes, während andererseits der fotografische Kontext die malerische Behauptung ein Stück weit dementiert und zersetzt.

Eine noch engere Verschränkung der beiden Disziplinen formuliert Lüders in einer Reihe von schwarz-weißen Landschaftsaufnahmen, die seit Ende der 1990er-Jahre entstehen. In Arbeiten wie Waldgrün (2001) oder Serpentaragrün (2002) übermalt Lüders die Naturaufnahmen zunächst komplett monochrom grün, um dann in einem zweiten Schritt die Farbe wieder leicht abzutragen, bis eine prekäre Balance aus zugrundeliegender fotografischer Schwarz-Weiß-Darstellung des Waldes und seiner farbmalerischen Naturalisierung erreicht ist. Interessanterweise wirkt das Foto durch den abstrakt-gestischen Farbauftrag so erst richtig realistisch. Der nicht abbildenden Charakter der Malerei verstärkt den Wahrheitscharakter der fotografischen Abbildung und sorgt doch gleichermaßen für das Gegenteil, da die Übermalung das Foto faktisch durchstreicht. Im Ergebnis generieren Foto und Malerei also gemeinsam eine höhere Realitätsdichte, indem sie sich gegenseitig sowohl verstärken auch infrage stellen. Das liegt unter anderem daran, dass Lüders – anders als Bertrand Lavier, der reale Gegenstände, angefangen bei Spiegeln über Kühlschränke bis hin zu ganzen Autos, komplett in ihren jeweiligen Lokalfarben bemalte – nicht die Realität in ein Zeichen ihrer selbst verwandelt, sondern eine selbst schon zeichenhafte Realitätsstufe durch die Kreuzung mit einer weiteren Bezeichnung noch tiefer in den auswegslosen Strudel zwischen Signifikat und Signifikant überführt.

Seinen stärksten, in gewisser Weise unheimlichsten Ausdruck findet dieses Werk in einer groß angelegten, bereits 1994 begonnenen Serie, in der Lüders mit der Kontrastierung von Fotografie und Malerei operiert. Wie Aliens schweben dort merkwürdige, längliche schwarz-weiße Malwesen in Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Badezimmern, Kirchenaltären, Bodenbelägen oder Museumsräumen. Einerseits sind diese Formen nichts anderes als kompakt verdichtete gestische Pinselstriche. Andererseits stattet Lüders sie mit einem plastischen Volumen aus, das die vermeintliche Abstraktion des reinen Pinselstrichs erheblich infrage stellt. Zumal diese rätselhaften, oft an Gurken erinnernden Formlinge perfiderweise auch noch einen Schatten werfen, sich also ein Selbstbewusstsein anmaßen, das allenfalls reale Gegenstände, nicht aber die Malerei, für sich beanspruchen können. Wie geisterhafte Phantomwesen irritieren sie und kommentieren das Bildgeschehen der Fotografien, nicht ohne eine gehörige Portion Ironie.  Dies gilt insbesondere für die Raumaufnahme Objekt 215-4 aus der Hamburger Galerie der Gegenwart mit einem frühen, nach einer Fotografie entstandenen Schwarz-Weiß-Gemälde Gerhard Richters, in die Lüders eine scheinbar unscharf wirkende, verwischte Malform hineinschmuggelte. Hier befinden wir uns wirklich in einem perfekten, ausweglosen Bildzirkel: Das Foto zeigt ein Gemälde, das sich auf ein Foto bezieht, das eben diese Unschärfe aufweist, die Lüders seinem plastischen Pinselstrich mitgibt. Und das strukturelle Misstrauen gegenüber der Möglichkeit, die Wirklichkeit im Bild zu repräsentieren, das Richters Werk spätestens seit seinen schwarz-weißen Fotomalereien beherrscht, ist gleichzeitig die Matrix für die »Photopicturen« von Marc Lüders. Auf ihnen sehen wir, wie uns die Wirklichkeit im Bild immer wieder entgleitet und durch die wechselseitigen Ansprüche der Medien Fotografie und Malerei kontaminiert wird: Wenn beispielsweise eine dieser Fotografien tatsächlich nichts als einen Ausschnitt eines einfachen, leicht schäbigen Badezimmers darstellen soll, dann dürfte sich dort eben nicht ein schwarz-weißer, Schatten werfender Farbkörper in Kniehöhe breitmachen, der seinerseits ebenso selbstverständlich auf seinem repräsentativen Recht beharrt, wie dies sein fotografischer Umraum tut.

Das produktive Paradox dieser Arbeiten liegt demnach darin, dass sie zeigen, wie ähnlich sich scheinbare Abstraktion und scheinbare Gegenständlichkeit tatsächlich sind, wenn man sie auf einer Bildebene zusammenbringt. Denn auf diesen Fotos lädt sich der gestische Selbstausdruck des Pinsels ebenso mit einer narrativ-gegenständlichen Energie auf, wie er andererseits die Realitätshaltigkeit des Fotos unterminiert. In ihrem Kern sind diese Arbeiten der Beweis dafür, dass die Wirklichkeit im Bild tatsächlich in ihrer Bildwirklichkeit besteht.

Stephan Berg, 2010

Quelle: Marc Lüders. Erfindung der Realität. Hatje Cantz, Ostfildern, 2010, page 76-78

Ludwig Seyfarth: Gemaltes Verschwinden. (2008)

Ludwig Seyfarth:
Gemaltes Verschwinden. Zu Marc Lüders
East Side-Serie.

Die    Trompe l’oeil Malerei täuscht die Augen derartig, dass sie gemalte Gegenstände mit ihren realen Vorbildern verwechseln.
Diese Absicht stand schon hinter dem berühmten antiken Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios, den letzterer entschied weil er Zeuxis dazu brachte, den gemalten Vorhang vor einem vermeintlichen Gemälde zurückziehen zu wollen. Einer der historischen Höhepunkte des Trompe-l’oeil entwickelte sich als Spezialzweig der Stilllebenmalerei im Holland des 17. Jahrhunderts. Cornelius Gijsbrechts, einer der größten Virtuosen auf diesem Gebiet, stellte neben Vorhängen, geöffneten Fenstern oder Briefablagen auch Rückseiten von Bildern illusionistisch dar.

Seit dem 19. Jahrhundert verlor der malerische Illusionismus zunehmend an Bedeutung, nicht zuletzt durch das Aufkommen der Fotografie. Sie hatte der Malerei die Aufgabe weitgehend abgenommen, die Dinge getreu abzubilden. Doch der Malerei fiel eine neue Aufgabe des Trompe-l’oeil zu, sich selbst in einem anderen Medium vorzutäuschen. Fotos wurden koloriert und bemalt, um wie Gemälde auszusehen. Sie sollten dadurch die Anerkennung als Kunst erlangen, die rein technisch hergestellten Lichtbildern lange Zeit verweigert wurde.

So entwickelte sich im Verhältnis von Malerei und Fotografie ein merkwürdiger Nachfolger des klassischen Paragonestreits, der einst zwischen Malerei und Skulptur um die »wahrere« Abbildung der Natur ausgetragen wurde. Gerhard Richter proklamierte in den 60ger Jahren:
»Alle Maler und überhaupt alle sollten Fotos abmalen und überall sollten diese Bilder hängen, in den Wohnungen, den Gaststätten und Büros, in Bahnhöfen und Kirchen, also überall.« (1) Neben Richters malerischer Übertrumpfung fotografischer Unschärfen traten um 1970 die Fotorealisten mit ihren virtuosen Bildern nach Fotovorlagen in Erscheinung. Sie brachten die augentäuscherischen Möglichkeiten der Malerei noch einmal zu kunsthistorischen Ehren, bevor die Möglichkeiten digitaler Bildherstellung und –manipulation die Frage »Malerei oder Fotografie« in eine beliebig wählbare Option aus dem Photoshop-Menü verwandelten.

Künstler treten angesichts neuer Bildtechniken gern einen Schritt zurück, um diese besser beobachten zu können. Manet oder Degas übertrugen die Anschnitte und Verzerrungen, über die man auf Fotos gern hinwegsah, in die Malerei, wo der Rahmen der hier erwarteten Kompositionsregeln sie gleichsam unter ein Vergrößerungsglas stellte.
Und so ist es keineswegs ein historischer Rückschritt, wenn Marc Lüders uns in seinen »Photopicturen« keine PhotoshopMontagen liefert. Er versieht Fotos, die er von realen Landschaften, Brachflächen oder urbanen Situationen gemacht hat, mit einzelnen dazugemalten Elementen.

Scheinbar lässt er die altertümliche Kolorierung und andere Frühformen der fotografischen Täuschung wieder aufleben. Die merkwürdigen, wurstartigen Formen, die auch schon auf Lüders’ früheren Schwarzweißbildern herumschwebten, mögen wie Wiedergänger der amorphen Gebilde auf den »Geisterfotografien« Ende des 19. Jahrhunderts wirken. Sie sollten die Existenz übersinnlicher Phänomene beweisen, entpuppten sich aber meist als mehr oder weniger geschickte Fälschungen.
Solche Formen, die manchmal deutlich als Pinselstriche kenntlich sind, manchmal an einen in der Luft schwebenden Klumpen oder Stein erinnern, finden wir auch in Lüders’ neuester Bildserie. Sie basiert auf Fotografien die der Künstler an der »East Side Gallery« machte; einem der wenigen übrig gebliebenen Teile der Berliner Mauer, welches 1990 auf 1316 m Länge von über 100 internationalen Künstlern mit meist grellbunten Motiven bemalt wurde.
Bereits der kalte Winter 1990/91 führte zu ersten Schäden an den Bildern, die zwar seit einigen Jahren teilweise restauriert werden, aber immer noch großenteils verwittert, teilweise abgeblättert und durch andere Graffitis oder Textbotschaften übermalt oder überkritzelt sind.

Vor den fotografierten Abschnitten der East Side Gallery nehmen sich Lüders’ malerische »Ergänzungen« wie Bestandteile des bereits auf der Mauer Angebrachten aus. Dass hier eine eigene Realitätsebene vorliegt, wird vor allem durch die gemalten Schatten deutlich, welche die länglichen Striche oder klumpenartigen Formationen auf die Mauer oder auf den Boden zu werfen scheinen. Mit diesem klassischen Trompe-l’oeil-Effekt knüpft Marc Lüders ironisch an den historischen Wettstreit zwischen Malerei und Skulptur an: Der Schatten, klassischer Beweis für die physische Existenz, verleiht dem Gemalten den scheinbaren Realitätsgrad eines im Raum befindlichen Gegenstandes.
Den sich mitunter zu strudelartigen Gebilden auftürmenden, ungegenständlichen Formationen, die in den nummerierten Bildtiteln stets mit »Objekt« klassifiziert sind, steht eine zweite, mit »Figur« bezeichnete Kategorie des »Dazugemalten« gegenüber. Bei diesen Figuren handelt es sich um Menschen, die Lüders zunächst auf öffentlichen Plätzen, an der Ampel stehend oder in anderen beiläufigen Situationen fotografiert hat. Sie tauchten schon in früheren Bilderserien gemalt wieder auf, wo sie einsam im Wald, am Strand oder in einem Gewerbegebiet stehen.
Die Rückenfiguren, die einst von Caspar David Friedrich ähnlich in die Landschaften hineincollagiert wurden, verdoppelten den Blick der Betrachter in die Landschaft, der zwar verträumt sein mag, aber doch einigermaßen zielgerichtet nach hinten geht. Auch Lüders’ Figuren sieht man häufig von hinten. Doch wenn sie seitlich oder frontal stehen, geht der Blick nicht in Richtung Betrachter. Ihre Gesichter sind nie deutlich zu erkennen und sie stehen beziehungslos wie orientierungslose Fremde in der »neuen« Umgebung herum.

Vielleicht ist es nicht übertrieben darin auch eine Metapher für die Beiläufigkeit der Beziehungen zwischen den Menschen in der Großstadt zu sehen, wie sie schon von Edgar Allan Poe, Baudelaire oder dem deutschen Soziologen Georg Simmel eindringlich beschrieben wurde. Auf vielen Fotografien urbaner Milieus findet sich ein Eindruck mentaler Abwesenheit wie eine Signatur des modernen Lebens, etwa in den »Subway Portraits«, die Walker Evans zwischen 1938 und 1940 mit versteckter Kamera von Passagieren in der New Yorker U-Bahn machte.
Ähnlich wie Evans nimmt Lüders Passanten auf, deren Nicht-Wissen um das Fotografiertwerden sie mental abwesend erscheinen lassen. In der East Side-Serie findet sich einerseits kein Bezug der Figuren zu uns als Betrachter, andererseits lassen sie kaum eine Aufmerksamkeit zum Hintergrund der bemalten Mauer erkennen.
Der Bezug von Figur und Hintergrund ist ein kompositorischer, den Lüders durch die Platzierung der Figur im Bild und durch die Farben von Kleidung, Taschen oder anderer Accessoires herstellt. Farbliche und formale Korrespondenzen stellen eine kompositorische Vereinheitlichung her.
Und je bunter die Personen gekleidet sind, desto besser sind sie in der Umgebung »versteckt«. Wer in einer Landschaft, in einem Wald unsichtbar bleiben will, wird eher dunkle und zurückhaltende Tarnfarben oder laubfarbene Musterungen wählen, wie sie die traditionelle militärische Tarnkleidung aufweist. Als 1915 Kanonen mit Camouflage-Bemalung durch Paris fuhren, soll Picasso zu Gertrude Stein gesagt haben: »Das haben wir erfunden.« (2)
Tatsächlich gibt es viel Vergleichbares zwischen der kubistischen Formzerlegung mit der Picasso und Braque die traditionellen Objektbeziehungen in ein zersplittertes Mosaik aus Einzelformen auflösten und militärischen Tarnbemalungen, die einen Gegenstand in seiner Umgebung optisch zum Verschwinden bringen sollen.
So gesehen scheint es geradezu folgerichtig, dass William Wadsworth und andere Vertreter des Vortizismus, der britischen Spielart des Kubismus, gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit der Beaufsichtigung des Tarnanstriches von 2000 Schiffen beauftragt wurden.

Auch die East Side Gallery ist eine Art Camouflage-Bemalung: Sie sollte das triste Grau der Betonplatten verbergen, wie schon die zahlreichen Graffitis, die vor 1990 die Westseite der Berliner Mauer geziert hatten. Dass auch die »East Side«, ein einst den Grenzbereich nach Ostberlin hin abschirmender Mauerabschnitt, nach der Maueröffnung mit Graffitis und anderen Bildern bemalt wurde, verstand sich als bewusster und befreiender Kommentar zu den politischen Veränderungen, die in den einzelnen Werken der Graffitikünstler inhaltlich reflektiert wurden.
Die Verwitterungen und Übermalungen machen aus den ehemals klaren Botschaften ein komplexes Wirrwarr aus Farben, Formen, Texten und Zeichen. Sie hätten sicher Fotografen wie Brassaï fasziniert, der schon in den 1930er Jahren Graffitis oder abgerissene Plakate aufnahm und damit die pittoreske Verfallsästhetik modernisierte, die schon im 19. Jahrhundert den Geschmack vieler Fotografen an Ruinen und verfallenden und verwitterten Mauerflächen entzündete. Was Brassaï noch in grafischem Schwarzweiß einfing, hängten die »Plakatabreisser« wie Raymond Hains oder Jacques de la Villeglé um 1960 als vielfarbige Bildobjekte ins Museum. Schon ihre Bilder gäben eine gute Tarnumgebung ab, vor der die Figuren von Lüders in ihrer poppig-bunten Straßenkleidung, ihren T-Shirts mit Logos oder Schriftzügen optisch nahezu verschwinden würden.

Um das Gegenteil geht es den Touristen, die sich vor der realen East Side Gallery, auf dem Bürgersteig entlang der vielbefahrenen Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke von ihren Verwandten oder Freunden ablichten lassen. Sie wollen zeigen, dass sie hier waren, was bei den Personen auf Lüders’ Bildern wahrscheinlich nie der Fall war.
Sie sind malerisch hineincollagiert in eine Umgebung, die bereits eine Collage ist, die sich im Laufe der letzten achtzehn Jahre in diversen Schichten auf einem Rest der Berliner Mauer abgelagert hat.
Auch wenn niemand in der Lage sein dürfte, Herkunft und Urheber all der hinterlassenen Bilder und Zeichen zu ermitteln, handelt es sich um physisch erfahrbare Spuren. Ihnen hat Marc Lüders, der schon in einigen früheren Bildern fotografierte Wände mit gemalten Graffitis versah, gezielt Elemente hinzufügt, die zu einer manchmal reliefartig erhabenen physischen Spur auf der Oberfläche des Fotos werden. Die abstrakten Formen, die manchmal wie ein spontan gesetzter Pinselstrich aussehen, sind eher Zeichen für die Spontaneität der malerischen Geste als wirklich spontan. Man könnte sie als illusionistische Darstellung eines gestischen Pinselhiebs verstehen, als gemaltes Trompe-l’oeil der Malerei selbst.

Und damit wären wir doch bei einem ganz anderen Thema als dem Wettstreit zwischen Fotografie und Malerei, den Marc Lüders nur scheinbar noch einmal aufführt, um der Nivellierung aller Medien durch ihre digitale Simulation ein kleines analoges Schnippchen zu schlagen. Lüders fotografiert, was gemalt ist, malt selbst etwas dazu, und dieses Gemalte wirft einen Schatten in der realen Umgebung. Das Einzige, dessen »Realität« wir physisch überprüfen können, ist die Erhabenheit der Malerei. Von der physischen Realität ausgehend, die auf dem zugrunde liegenden Foto zu sehen ist, suggerieren die gemalten Elemente eine hinzugefügte Ebene von geringerem Realitätsgrad. Verschiedene Ebenen der visuellen Darstellung werden in ein Spiel miteinander verwickelt, das ihre Eindeutigkeit immer wieder in Frage stellt. Das vermeintliche Wechselspiel zwischen Malerei und Fotografie ist eher eine szenische Aufführung dessen, was sich bei digital generierten Bildern gleichsam hinter dem Vorhang der Bildschirmoberfläche vollzieht. Wenn Malerei, Fotografie und andere Bildmedien nur noch simuliert gegeneinander antreten, gibt es keine physischen Spuren mehr, deren Realität in Frage zu stellen wäre. Und damit entfällt auch die notwendige Reibungsfläche für das illusionistische Spiel des Trompe-l’oeil, das Marc Lüders ebenso raffiniert wie zeitgemäß am Leben zu erhalten weiß.

Ludwig Seyfarth, 2008

(1)
Gerhard Richter, Text für Ausstellungskatalog der Galerie h, Hannover, zusammen mit Sigmar Polke [1966], in: ders., Text. Schriften und Interviews, hg. von Hans-Ulrich Obrist, Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 42.

(2)
siehe dazu und zum Folgenden: Christoph Asendorf, Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution, Wien/ New York 1997, S. 217 f.

Quelle: East Side Gallery. Kerber Verlag, Bielefeld, 2008, page 81-89.